Mittwoch, 16. Juni 2021
Bei uns in der Nähe gibt es eine "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage". An der Haltestelle steigen regelmäßig junge Männer in weißem Hemd und Anzug ein und sprechen die Reisenden an. Ob sie an Gott glauben, fragen sie mit stark amerikanischem Akzent. Wenn das keine jungen Männer, sondern alte Männer mit Rauschebart und zwei Plastiktüten links und rechts fragen würden, hielte man sie für verrückt. So aber unterhalte ich mich ab und an mit ihnen und am Ende merke ich, dass sie nicht verrückt sind, sondern bloß naiv.

"Was", frage ich den Mann, "ist eigentlich Sinn und Zweck dieser Ansprache? Braucht ihr Geld oder Mitglieder, warum missoniert ihr? Das verstehe ich nicht. Ich bin aus der Kirche ausgetreten, weil ich nicht an Gott glaube, wieso sollte ich in eine andere Kirche eintreten?"

"Wir brauchen kein Geld und keine Mitglieder, wir sind auch keine Kirche", sagt der junge Mann. "Ich wollte einfach nur fragen, ob sie an Gott glauben, weil mich die Frage beschäftigt."

"Ja", sage ich, "mich beschäftigen auch viele Fragen, aber ich setze mich doch auch nicht in die Bahn und stelle sie wildfremden Menschen. Und selbstverständlich seid ihr eine Kirche, per definitionem seid ihr eine Kirche, man kann die Dinge nicht einfach definieren, wie es einem gefällt."

Der junge Mann fühlt sich langsam unwohl und entschuldigt sich irgendwann für die Störung.

"Pf", sage ich, "nicht schlimm, aber ein bisschen nervig." Verlogen, dachte ich insgeheim, aber das behielt ich für mich.

Die "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" sind Mormonen. Wieso sie sich so einen sperrigen Titel geben, weiß ich nicht.

Für das nächste Mal muss ich mir eine Karteikarte mitnehmen und den Text ablesen: "Ich möchte mich nicht mit ihnen über Gott unterhalte und möchte auch nicht, dass sie mich ansprechen. Danke."

Ich schreibe das hier auf, damit ich es das nächste Mal nicht vergesse.

... link (0 Kommentare)   ... comment